Denis Diderot (1713-1784)
Etienne Falconnet (1716-1791)
Glockenwächter
(ref. Marie-Anne Collot (1748-1821))
Der Glockenwächter von Marimont
Ort: Schloss Marimont, Moselle, Lothringen
Zeit der Aufklärung.
Ein Wächter auf einem Stuhl vor einem Tisch. Daneben ein Vorhang. Über dem Tisch ist eine Glocke beweglich aufgehängt und mit einem Seil verbunden, das irgendwo hinter dem Vorhang weiterführt. Zwei weitere Personen befinden sich vor dem Vorhang. Ein Projektor und eine Leinwand hinter dem Vorhang sind installiert.
Wächter
Guten Tag und willkommen! Sicher wissen Sie, dass die Kapelle von Marimont keine Kapelle ist sondern ein Bestattungsort. Wir haben ein wenig mehr in der Vergangenheit gegraben und dabei eine wichtige Entdeckung gemacht, die wir mit Ihnen teilen möchten.
Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich etwa vor 200 Jahren, zur Zeit der Aufklärung. Es war zu dieser Zeit, als der Mensch zum ersten Mal seinen Traum wahr machen konnte, es den Vögeln gleich zu tun und sich in die Lüfte zu erheben. Dies gelang mit der Erfindung der Gebrüder Mongolfier. Es war aber auch die Epoche, in der Menschen es gewagt haben, ihr Gewissen von der Diktatur einer Kirchen- und Aristokratenhierarchie zu befreien. Die Namen der enflussreichsten Persönlichkeiten sind Voltaire, Rousseau und Diderot in Frankreich sowie andere insbesondere in Großbritannien, Deutschland und Italien.
Ich selbst bin ein einfacher Wächter der über mir hängenden Glocke, und später werden Sie sehen, welche Rolle mir zugeteilt ist.
Zunächst möchte ich die anderen Akteure vorstellen.
Mein Herr, wer sind Sie? (deutet auf Diderot)
Diderot
Meinen Namen sollten Sie eigentlich kennen: ich heiße Denis Diderot. Mein Beruf ist es nachzudenken und kluge Dinge aufzuschreiben. Vielleicht haben Sie schon von der großen französischen Enzyklopädie gehört. Ein Zeugnis der Überlegenheit der französischen Kultur. Leider nur ein bescheidener wirtschatlicher Erfolg in meinem Land, wenn überhaupt. Nebenbei bemerkt, die Leute auf der anderen Seite des Kanals haben das vorher mit bescheidener Qualität vorgemacht. Das war dann die weltweit berühmte „Enzyclopedia Britannica“. Immerhin hat die Kaiserin Kathrin II aus St. Petersburg meinen Rat eingeholt, denn sie gefällt sich darin, aufgeklärt und modern zu sein.
Wächter
Ah! Wir haben doch gerade von Ihnen gesprochen. Welch eine Ehre, dass Sie heute bei uns sind!
Um aber auf Katharina II zurückzukommen: sie war doch eine große Kaiserin?
Diderot
Ja schon. Sie ist auch beim Volk beliebt. Sie ist sehr mütterlich und hat viele Kinder mit vielen Vätern.
Kürzlich hat sie mal schnell die Krim erobert und weite Teile des Gebietes, das später mal die Ukraine sein wird. Das war zu der Zeit so Mode, dass man einfach ein anderes, souveränes Land überfiel. Ausserdem hat sie auch das Königreich Polen zerschlagen und die Beute mit Habsburg und Preußen geteilt. Insgeheim hält sie sich für so bedeutend wie Peter der Große. Damit das nicht so nach Eigenlob aussieht, will sie ihn mit einem monumentalen Reiterdenkmal ehren.
Wächter
Das kling ja richtig nach großer Kultur. Gibt es denn in dem Reich der Zwiebeltürme auch Bildhauer?
Diderot
Das war die zweite wichtige Aufgabe, die sie mir anvertraute. Ich konnte ihr dazu einen exzellenten Bildhauer empfehlen, nämlich meinen Freund Etienne Falconnet, der auch in meiner Ezyklopädie das Kunstkapitel geschrieben hatte.
Wächter
War das wenigsten ein Erfolg? Ach, bevor ich es vergesse: wer sind Sie? (deutet auf Falconnet).
Falconnet
Na ja, ich bin der besagte Bildhauer, Etienne Falconnet.
Mit Peter dem Großen ging es zuerst ganz gut vorwärts, das kraftvolle Pferd war schon gelungen, aber dann hatte ich Probleme mit dem Kopf von Peter dem Großen. Das wollte nicht so recht klappen, eine überlegenen machtbesessenen Despoten mit immerhin menschlichem Antlitz zu schaffen. Jedenfalls gefielen meine Entwürfe der Kaiserin nicht.
Wächter
Klingt nach der Quadratur des Kreises. Jetz bin ich aber gespannt. Wie geht es weiter?
Diderot
Glücklicherweise hatte Falconnet seine Assistentin, Marie-Anne Collot, nach St. Petersburg mitgenommen. Sie hatte sich bereits einen Namen als Bildhauerin von Büsten namhafter Persönlichkeiten gemacht. Nicht ganz ohne Stolz kann ich sagen, sie hat auch eine sehr gelungene Büste von mir gefertigt, die sogar die Jahrhunderte überdauert hat. Auch die Kaiserin hatte Gefallen an ihr gefunden. Kein Wunder, wir beide, ich und mein Freund Falconnet hatten auch Gefallen an der jungen Frau. Falconnet hatte leider einen vorteilhaften Vorsprung mir gegenüber. Sie hat denn auch mal schnell seinen Sohn für kurze Zeit geheiratet und ihre Tochter Marie-Lucie hat konsequenterweise das Licht der Welt mit dem Namen Falconnet erblickt. Kann sein, dass es zu unserem Zerwürfnis später beigetragen hat.
Wächter
Typisch Mann. Nun lassen Sie doch mal die persönlichen Anspielungen beiseite und kommen Sie zur Sache. War sie erfolgreich als Bildhauerin?
Diderot
Man sollte die Bewunderung der Männer für das Weibliche nicht unterschätzen. Wie sagte Goethe (einer meiner Freunde in Deutschland) so schön: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“.
Aber zurück zu Ihrer Frage, die mein Freund Voltaire treffend beantwortet hat: „Marie-Anne Collot ist eine hochbegabte französische Bildhauerin, die insbesondere die Gesichter wie lebendig gestaltet.“.
Sie war in St. Petersburg hoch angesehen und auch in die Akademie der Künste aufgenommen.
Wächter
Und wie ging es dann weiter?
Falconnet
Es war alles ein bisschen chaotisch. Ich war mit der Vollendung des Reitermonumentes nicht zufrieden und verließ Russland übereilt bevor es fertig war und begab sich nach Den Haag, wo andere wichtige Aufträge auf mich warteten. Inzwischen war meine Assistentin zu meiner Freude meine Schwiegertochter geworden und war schwanger mit ihrer Tochter Marie Lucie. Sie folgte mir dann etwas später nach Paris, Den Haag und zurück nach Paris, wo sie noche einige bemerkenswerte Büsten schuf. Jedenfalls dauerte ihre Ehe mit meinem Sohn nur ein Jahr und ihre Schaffensperiode nur etwa 20 Jahre.
Diderot
Um es kurz zu machen: sie pflegte ihren Schwiegervater bis zum Tod und zog sich dann auf das Gut Marimont in Lothringen zurück, wo sie ihre letzte Ruhestätte in der Kapelle fand. Es schien so, als ob die Kunsthistoriker und Geschichtsschreiber sie auch begraben hätten. Weder im Larousse Pour Tous (1909), The Encyclopedia Britannica (19011) oder in Meyers Konversationslexikon (1885) wird Marie Anne Collot erwähnt, obwohl Etienne Falconnet und das Reiterstandbild von Peter dem Großen ausführlich gewürdigt wird. Nebenbei: eine Genie ist zwar jemand, der mit aussergewöhnlicher Begabung geboren wird, aber als berühmte Persönlichkeit wird sie oder er immer von ihren Bewunderern oder Nutznießern gemacht. Sie hatte zwar Bewunderer zu ihrer Zeit, aber als die Protagonisten der Aufklärung verschwunden waren, fand sie keinen Platz mehr in der Gesellschaft. Aus welchen Gründen auch immer, das hatte sie nicht verdient.
Wächter
Stellen Sie sich jetzt vor, sie sind im Jahr 1821! Das ist die Zeit nach den napoleonischen Kriegen, wo in Österreich, speziell in Wien, sich eine Lebensangst breit machte, die sogar darin gipfelte, dass man vielerorts befürchtete, nur einem Scheintod zu erliegen und damit konsequenterweise lebndig begraben zu werden. Die Vorstellung, im Sarg oder der Gruft zu erwachen und keine Möglichkeit der Rettung zu haben, verfolgte die Menschen in ihren Albträumen. Es erschien nur natürlich, dass kommerzielle Angebote in Mode kamen, bei denen entsprechende Hilfsvorrichtungen verkauft wurden. Noch heute (im 21. Jahrhundert) kann man in Wien im Leichenschauhaus eine Glocke finden, die mit einem Seil so verbunden ist, so dass der aufgewachte Scheintote daran ziehen kann und ein Wächter am anderen Ende der Vorrichtung zu Hilfe eilen kann. Soweit ich informiert bin, hat die Glocke in den letzten 200 Jahren nie geläutet.
Nun, so eine Glocke wurde auch in der Gruft von Marimont in der letzten Ruhestätte von Marie Anne Collot-Falconnet installiert und ich bin stolz zu bekennen, dass ich seit 200 Jahren (wegen Covid sind es jetzt 201 Jahre) hier Wache halte. In all dieser Zeit ist die Glocke über mir ein Teile meiner selbst geworden, selbst wenn sie immer stumm bliebe.
Der Wächter deutet mit ausgebreiteten Armen auf die Glocke über ihm.
Wie von Geisterhand getrieben läutet die Glocke eindringlich.
Wächter
Das ist das Zeichen! Das unmögliche wird wahr! Marie Anne ist erwacht! Ihr alle hier seid Zeuge, dass wir diese großartige Künstlerin wieder bei uns haben. Wir werden sie nie wieder vergessen. Dafür wird die Vereinigung A.R.C.M. in Lothringen mit ihren Mitgliedern sorgen.
Ich muss mich nun verabschieden. In den 200 Jahren des Wartens bin ich inzwischen zu Staub geworden. Leben sie wohl!
Wächter verschwindet. Ausschalten des Scheinwerfers, schwarzer Vorhang.
Enthüllung einer Gedenktafel für Marie Anne Collot-Falconnet.